Dokumentation Fachtag „Wrangelkiez für Alle!“ vom 06.10.2020

Liebe Besucher*innen des Fachtages „Wrangelkiez für Alle“,
Liebe Nachbar*innen,

aufgrund vermehrter Anfragen an uns, die den Abbau der Bänke und der Toilette sowie die wiederholten Räumungen unserer obdachlosen Nachbar*innen im Durchgang Cuvrystr. /Falckensteinstr. betreffen, stellen wir unserer Dokumentation die folgenden Grundaussagen, der beim Fachtag anwesenden Nachbar*innen, Vertreter*innen von sozialen Einrichtungen und von Bezirksressorts voran und fordern dringend die Berücksichtigung dieser Forderungen von den dafür verantwortlichen Stellen:

  • Keine Verdrängung, keine Räumung, kein Abbau von Aufenthaltsorten: dieses Vorgehen verlagert die Konflikte und Probleme ausschließlich in andere Bereiche im Kiez, auf andere Spielplätze, in andere Hauseingänge usw. Es bietet keinerlei Lösung für die Nachbarschaft als Ganzes und den Bezirk. Kein Abbau von Bänken und Toiletten, kein Verlagern der Problemlösung an die Polizei, kein Absperren von Spielplätzen und öffentlichen Räumen.
    Wir wünschen uns die regelmäßige und verlässliche Reinigung des öffentlichen Raums, psycho-soziale Begleitung, Hygiene-Möglichkeiten, Ausweichorte und Obdach!
  • Mehr Transparenz: welche bezirklichen Strategien, welche Informationen, welche Gremien, welche Ansprechpartner *innen, welche Zuständigkeiten gibt es
    und wie können wir die von uns gewünschten Interventionen einbringen?
  • Mehr und regelmäßige Kommunikation: mit vielen Nachbar*innen sprechen und planen – regelmäßig! Abgestimmtes, langfristig sinnvolles Vorgehen mittels moderierter Steuerungsrunden.

Viele Menschen im Wrangelkiez sind bereit Solidarität zu zeigen und treten für ihre Anliegen ebenso, wie für die der besonders schutzbedürftigen Gruppen ein. Dies sind Kinder. Dies sind auch obdachlose Nachbar*innen.
Uns ist sehr wohl bewusst, dass es auch unter diesen besonders schutzbedürftigen Menschen Interessenskonflikte gibt. Daher ist ein moderierter und langfristiger Prozess mit dem Ziel eines breit getragenen, solidarischen Handelns unbedingt notwendig.

Aufgrund der schwierigen Situationen im öffentlichen Raum im Wrangelkiez haben wir während des Fachtags „Wrangelkiez für Alle!“ am 06.10.2020 mit 51 Teilnehmer*innen eine ganze Reihe von lokal getragenen Perspektiven

diskutiert und Lösungsansätze bzw. gewünschte Interventionen erarbeitet.

Wir bitten Euch, uns für weitere Rückmeldungen und Abstimmungen, oder bei Bedarf an Kontaktvermittlungen – z.Bsp. zur Spielplatz-Initiative oder anderen, über netzwerkstelle@pfh-berlin.de zu kontaktieren.

Fachtag „Wrangelkiez für Alle!“

Plakat und Flyer: Fachtag „Wrangelkiez für Alle!“  am 06.10.2020
13-17 Uhr, Kiezanker36 – Familien- und Nachbarschaftszentrum im Wrangelkiez

Link: Einladung Fachtag.pdf

Themen der Arbeitsgruppen
1. Hygiene und Gesundheit
2. Müll und Straßenreinigung
3. Drogenkonsum und /-handel im Kiez
4. Kinder und Jugendliche: Spielplätze, Nutzung öffentlicher Raum im Kiez
5. Obdachlosigkeit im Kiez
6. Sicherheit im Kiez

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Dokumentation des Fachtags „Wrangelkiez für Alle!“ vom 06.10.2020

I.   Begrüßung – Esther Borkam, Leiterin Kiezanker 36

a)  Haltung Kiezanker 36: Der öffentliche Raum ist für Alle da. Jede*r sollte sich wohlfühlen. Es gibt vollstes Verständnis für die Sorgen von Eltern, Kindern, Anwohner*innen, Kita und Schule, aber auch Betroffenheit und Sorge über den Umgang mit den Menschen, die keine andere Möglichkeit haben, als ihre Grundbedürfnisse im öffentlichen Raum zu erfüllen (wie Wohnen, Schlafen, Essen, Hygiene, u.a). Der Kiezanker versucht mit und in diesem Fachtag besonders diejenigen zu vertreten, die sich hier nicht selbst vertreten können.

Ziel der Veranstaltung: Auch wenn nicht für alle Situationen übereinstimmende Vorgehensweisen und Ziele gefunden werden, können wir eine gemeinsame Haltung entwickeln, wie wir miteinander umgehen wollen und welche Grundsätze dabei gelten sollen.

b)  Ergebnisse des Fachtags – gemeinsame Grundhaltung und Grundsätze im weiteren Vorgehen: Anwesende Nachbar*innen, sozialen Einrichtungen und Fachkräfte im Wrangelkiez teilen folgende Grundhaltungen und fordern ein dem entsprechendes Vorgehen des Bezirks:

    • Keine Verdrängung, keine Räumung, kein Abbau von Aufenthaltsorten: dieses Vorgehen verlagert die Konflikte und Probleme ausschließlich in andere Bereiche im Kiez, auf andere Spielplätze, in andere Hauseingänge usw. Es bietet keinerlei Lösung für die Nachbarschaft als Ganzes. Kein Abbau von Bänken und Toiletten, keine überantworten der Problemlösung an die Polizei, kein Absperren von Spielplätzen und öffentlichen Räumen. Wir wünschen uns die regelmäßige und verlässliche Reinigung des öffentlichen Raums, psycho-soziale Begleitung, Hygiene-Möglichkeiten, Ausweichorte und Obdach!
    • Mehr Transparenz: welche bezirklichen Strategien, welche Informationen, welche Gremien, welche Ansprechpart*innen, welche Zuständigkeiten gibt es und wie können wir die von uns gewünschten Interventionen einbringen?
    • Mehr und regelmäßige Kommunikation: mit vielen Nachbar*innen sprechen und planen – regelmäßig abgestimmtes, langfristig sinnvolles Vorgehen mittels moderierter Steuerungsrunden.

Die einzelnen Gruppen:

  1. Hygiene und Gesundheit, Müll und Straßenreinigung

    a)  Input Wolfgang, Leiter der Wohnungslosentagesstätte Cuvrystr. (Bürgerhilfe)
    Veränderungen: In den 90ern waren v.a. ältere Männer mit Alkoholsucht Besucher der Wohnungslosentagesstätte. Heute gibt es ein starkes Drogensuchtproblem, v.a. mit synthetischen Drogen, u.a. mit der Folge, dass das Verhalten unter Drogeneinfluss unberechenbar ist. Heute kommen zunehmend Menschen aus Polen, Ost- und Südosteuropa, weil es in den Herkunftsländern keine Unterstützung gibt.
    Ziel: Wir müssen gegenseitiges Verständnis herstellen und Lösungen finden, wie wir gemeinsam die Situation im Kiez entzerren und die Bedingungen für die Menschen auf der Straße verbessern können.
    Zu berücksichtigen ist dabei, dass es sich nicht um lokal lösbare Problem handelt, die Ursachen nicht von den Nachbarschaften verändert werden können.

    b) Ergebnisse der AG
    – „Badehaus“ (in Anlehnung an Heilehaus Waldemarstr.): Ein fester, betreuter Raum mit Badewanne, Dusche, Toilette (Kurt-Held-Schule?, Spreewaldbad?)
    – Orte für Toiletten: Platz ohne Namen (und weitere – was ist in Planung?!), kostenfreie Nutzung für Bedürftige, regelmäßig anwesende, kontinuierlich finanzierte Reinigungskräfte
    – Netzwerke: wo und wie können weitere Hygienemöglichkeiten für Menschen ohne Obdach zugänglich gemacht werden – was braucht es dafür?, wer kann dafür angefragt werden? (z.Bsp. Lokale, öffentliche Einrichtungen – Verweis: Aktion „Händewaschen“ vom Arbeitskreis Wohnungsnot)
    – Gelder beschaffen um Toiletten nutzen zu können – für Reinigung (z.B. Taborkirche)
    – aufsuchende Sozialberatung fest einrichten – langfristig sichern! (Gangway + Parkläufer!)
    – Bezirk muss mit Senat zusammenarbeiten
    – Sperrmüll: regelmäßige Abholung und Sperrgutmärkte, Sensibilisierung der Anwohner*innen, nicht alles auf die Straße zu stellen
    – regelmäßig Kältebus und Arztmobil auf Platz ohne Namen
    – alle Angebote auch in anderen Kiezen vorhalten und dazu stärker informieren, um singulärer Überbeanspruchung des öffentlichen Raums entgegenzuwirken (Konsens meherer Gruppen)
    – Reinigungs-Zuständigkeiten transparent machen: an wen wenden?
    – Bitte an Grünflächenamt: Spielplätze/Friedhöfe regelmäßig und zuverlässig reinigen, dabei ist z.Bsp. die Zuständigkeit der jetzigen Firma aus Magdeburg für Rückmeldungen und Verantwortlichkeit (Abläufe vor Ort) schwierig.

  2. Drogenkonsum und -handel im Kiez

    a) Input: Juri, Gangway e.V., aufsuchende Arbeit, Streetwork
    Problem: Die Konflikte und Diskussionen, die im Wrangelkiez geführt werden, gibt es seit 35 Jahren. Als Anfang der 80er Jahre der „Krieg gegen Drogen“ begann, wurde die Drogenszene in die Wohngebiete gedrängt. Die Politik muss umdenken und weg von der Bekämpfung illegalisierter Drogen durch Repression (kontrollierte Abgabe, etc.).
    Ziel: Was können wir vor Ort leisten? Gespräche mit Konsument*innen führen, Angebote schaffen (wie Originalstoffabgabe). Wir müssen radikal an die Situation heran und ganz neue Ideen entwickeln.

    b) Ergebnisse der AG
    – Park für Szene offen lassen, nicht in Umgebung verdrängen
    – Aufklärung für Konsument*innen (Harmreduction, etc.)
    – Verlässlichkeit, Vertrauen schaffen
    – Begegnungs-Settings aufbauen, diese mit allen Raum-Nutzer*innen gemeinsam planen und regelmäßig umsetzen (Anwohner*innen, temporäre Nutzer*innen, in öffentlichen Räumen lebende Menschen)
    – Belebung des Parks unter Beteiligung der Szene
    – Veranstaltungen zu Kultur, Sport, Kunstperformances, z.B. als Basar, Markt etc.
    – Hygienekonzept für Park (Toiletten)
    – Appell an Eigenverantwortung (Großstadt – Abfall – Umgang)
    – mehr aufsuchende Arbeit mit niedrigschwelligen Zugängen
    – Informationen und „lebenspraktische, alltagsnahe Handlungsempfehlungen“ bezogen auf den Kiez (Forum „öffentlicher Raum“ schaffen, in dem gleichberechtigt ausgehandelte Regeln des sozialen Miteinanders verabredet werden)
    – Menschenrecht auf Wohnen und Hygiene
    – Wrangelkiez als Erprobungsraum für neue soziale Ideen und kooperative Umsetzungen (Bsp. „Leo“ in die Planungen zu Flächen- und Platzmanagement werden alle Nutzer*innen eigenverantwortlich einbezogen, um wo immer möglich mehr selbstverwaltete Räume zu schaffen)

  3. Kinder und Jugendliche: Spielplätze, Nutzung öffentlicher Raum im Kiez

    a) Input: Paula, Anwohnerin und Elterninitiative „Spielplatz in Not“
    Problem: Spielplätze sind abgebaut, abgesperrt, vermüllt, kontaminiert, fremdgenutzt. Die Sicherheit und Gesundheit der Kinder ist durch Drogenfunde, Spritzen, Fäkalien etc. gefährdet. Kitas – insbesondere Kinderläden ohne Außenbereiche – sind auf Spielplätze als Freiflächen angewiesen. Kinder kommen als Nutzer*innengruppe in bezirklicher Politik und Verwaltung nur am Rande vor, haben keine Lobby.
    Ziel: Die Interessen der Kinder vertreten und geschützte Räume für Kinder schaffen.

    b)  Ergebnisse der AG
    Kinder, Jugendliche und Familien im öffentlichen Raum stärken
    Voraussetzungen:
    – sichtbar machen
    – Gehör verschaffen
    – Räume definieren (Spielplatz, öffentlicher Raum, Schulweg)
    – Gruppen und jeweilige Anliegen definieren
    Strategien:
    – Beteiligung und Selbstwirksamkeit erfahren
    – Aufklärung und Prävention (mehr Information und Material-Zugang, z.Bsp. Broschüre von Fixpunkt auslegen, externer Link: https://www.infodrog.ch/files/content/materialien_de/broschuere_umsicht.vorsicht.pdf)
    – Vernetzung der Akteur*innen
    – pädagogische Arbeit und Ressourcen vor Ort nutzen
    – Nachbarschaft sensibilisieren
    Forderungen:
    – Fürsorgepflicht in allen Instanzen stärker wahrnehmen
    – Spielplätze nutzbar machen für Kinder (Zweckentfremdung verhindern): Beschilderung, Reinigung (täglich durch BSR), Instandsetzung/-haltung
    – Räume (öffentlich und kostenlos) für „Lückekinder“ (ca. 9-13 Jahre) und Jugendliche
    – Beteiligung an Planung
    – Budget

  4. Obdachlosigkeit im Kiez

    a) Input: Stefan Mattias, ehemaliger Pfarrer in der Taborkirche
    Problem: Viele Menschen stehen unter erhöhtem Stress im Alltag und sind (u.a. pandemiebedingt) einer Vielzahl an Stressfaktoren ausgesetzt. Sie möchten eigentlich nur Ruhe, die Stressfaktoren sollen weg.
    Ziel: Den Stresspegel senken, aber nicht durch Verdrängung, da dies insgesamt wirkungslos und in den Folgen unmenschlich ist. Was können WIR für die Menschen auf der Straße tun, vor dem Hintergrund, dass Hartz IV, Obdachlosigkeit etc. Teil des marktwirtschaftlichen Systems sind und solange das System so existiert auch immer da sein werden. Auf der lokalen Ebene können diese Probleme nicht gelöst werden. Vor Ort bleibt nur ein konsequent solidarisches Umgehen damit.

    b) Ergebnisse der AG
    Global:
    – Zugang zum Sozial- und Gesundheitssystem für Alle
    – Wohnungsangebote für jede*n Obdachlose*n
    Im Kiez:
    keine weitere Verdrängung von Obdachlosen aus dem öffentlichen Raum (Abbauen von Bänken etc.)
    – Recht auf Hygiene-Versorgung: für alle Menschen frei zugängliche, gewartete & gereinigte sanitäre Einrichtungen (Duschen, Toiletten) hier und in anderen Kiezen
    – Verstärkte Straßensozialarbeit
    – Versorgung von Armutsbevölkerung und Obdachlosen mit Nahrungsmitteln (Suppenküchen etc.) hier und in anderen Kiezen
    – Alternative Freiflächen zur selbstorganisierten Ansiedlung von Obdachlosen mit sozialer Moderation zur Verfügung stellen

  5. Sicherheit im Kiez

    a) Input: Andi
    Problem auf drei Ebenen

    persönliche Ebene: Was kann ich tun, wenn ich in einen Konflikt gerate?
    öffentlicher Raum: verschiedene Bedürfnisse und Interessen führen zu Nutzungskonflikten. Es fehlt an Räumen und Wohnraum. Wie regeln wir die Konflikte? Welche Konflikte können wir mit den lokalen Ressourcen regeln?
    gesellschaftliche Institutionen: Behörden, Polizei, Politik – Welche Rolle spielen diese Organisationen in Bezug auf die Entstehung von (Un-)Sicherheit im Kiez. Vor dem Hintergrund, dass Kommerzialisierung des öffentlichen Raums keine Selbstorganisierung zugunsten vieler, unterschiedlicher Nutzer*innen zulässt.

    b) Ergebnisse der AG
    – keine Verdrängung, da dies keine Problemlösung sondern nur Verlagerung bedeutet
    – keine restriktive Sicherheitspolitik durch Polizei
    – abgestimmte und organisierte Ausweichräume gemeinsam planen und bereitstellen
    – Liste zusammenstellen mit Institutionen (Adressen) die unterstützen und für die  unterschiedlich Betroffenen direkt ansprechbar sind – denn: insbesondere obdachlose Menschen sind Gewalt etc. ausgesetzt und wollen auch Sicherheit.
    – es braucht mehr Informationen und Transparenz über Gremien, die sich bereits mit Sicherheit beschäftigen. Welche Strategien gibt es?

     

    Zwischenfazit
    Grundhaltung der Gruppen ist, dass Lösungen gewollt und gesucht werden, die nicht verdrängen.
    Den Teilnehmenden sind Austausch und Transparenz wichtig.
    Es sollen sinnvolle, abgestimmte und auch langfristige Lösungen gefunden und gemeinsam umgesetzt werden.

    Viele Lösungsansätze der einzelnen Themengruppen überschneiden sich.

    Weitere gemeinsame Konfliktlösung ist gewünscht, z.B. in unterschiedlichen Angeboten (Workshops) und Austausch/Beteiligungs-Formaten. Dazu informieren wir über Möglichkeiten und Angebote im Beitrag Ausblick.

    Link:  PDF – Dokumentation Fachtag „Wrangelkiez für Alle!“ vom 06.10.2020