Die aktive Form der Nachbarschaft

Text: Magnus Hengge

Der Schatten über der Stadt

„Die Wohnungskrise ist zum bestimmenden Lebensgefühl in den Städten geworden.“ Diesen Satz bringt zum Ausdruck, dass das urbane Zusammenleben unter einem dunklen Schatten steht: Der Angst, den Wohnraum – oder bei Kleingewerbetreibenden den Geschäftsraum – bald nicht mehr bezahlen zu können. Das nimmt den Menschen die Lebensfreude und die Perspektive. So empfinden laut einer Caritas-Umfrage fast drei Viertel aller Berliner*innen. Sie fürchten, sich ihre Wohnung in den nächsten zwei Jahren nicht mehr leisten zu können.

Bei manchen löst dieses Gefühl von ständigem Druck den Wunsch aus, sich der Innenstadt möglichst zu entziehen. Sie denken sich „bloß weg hier“ und sind empfänglich für „Umzugsprämien“, die ihnen vielleicht ein paar Monate helfen, um sich dann irgendwo am Rand der Stadt wiederzufinden – herausgerissen aus den bisherigen sozialen Netzen und nachbarschaftlichen Beziehungen. Es soll hier niemand beschuldigt werden, denn im Einzelfall sind die Begründungen mit Abfindung zu gehen schlüssig. Doch im Kiez bleibt von diesen Fällen eine preistreibende Hinterlassenschaft – eine freigewordene Wohnung im Bestand, die saniert werden kann, um vorbei an der lächerlichen Mietpreisbremse zum Höchstpreis zurück in den Markt gebracht zu werden. Ein gefundenes Fressen für nimmersatte Manager*innen in den Immobilienunternehmen und die Anleger*innen dahinter.

Bei vielen aber entsteht durch die Verschärfung der Wohnungskrise und die Skrupellosigkeit der Immobilienwirtschaft eine schon vergessen geglaubte Politisierung und das Gefühl eines „gemeinsamen Problems“ lässt eine neue gesellschaftliche Zusammenhalt wachsen. Denn den Druck bei den Wohn- bzw. Mietkosten verspüren inzwischen nicht mehr nur diejenigen, mit geringen Einkommen. Auch bei Menschen mit „guten Jobs“ wird es immer enger – entweder direkt finanziell weil der Anteil vom Einkommen, der für Wohnen gebraucht wird steigt, oder weil Familien mit Zuwachs keine Chance haben, angemessenen und bezahlbaren Wohnraum zu finden. Sie „verdichten nach innen“, bauen zweite Etagen und Regalwände ein und reduzieren ihre Ansprüche trotz steigender Kosten.

„Ihr sollt bei uns bleiben!“

Im Frühjahr 2018 veröffentlichten wir bei Bizim Kiez die Geschichte einer jungen Familie aus der Lübbener Str. Die Nachbarschaft kam zusammen und stellte sich solidarisch an die Seite der Familie. „Wir wollen euch nicht verlieren“ – das sagten Menschen, die zu der Familie bisher gar keinen Bezug hatten, außer eben, dass sie Nachbar*innen sind. In dieser Haltung wird spürbar, was „Nachbarschaft“ ausmachen kann. Es wird nicht gefragt: „Kannst du es dir leisten, hier zu leben?“ Die Entscheidung der Einzelnen für diesen Ort wird respektiert und ist gesetzt: „Wenn du hier als Teil des Kiez’ lebst, wollen wir nicht, dass du rausgeworfen wirst. Wenn wir das bei dir zulassen, trifft es uns bald alle.“

Diese Vorstellung kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir als Solidargemeinschaft nur „weiche Werkzeuge“ in der Hand haben. Vor Gericht kann nicht eine ganze Hausgemeinschaft oder gar Nachbarschaft irgendwelche Rechte geltend machen. Aber wir können in diesen Gruppen – und insbesondere zusammen mit mehreren Initiativen – starken öffentlichen Druck aufbauen.

Ein exemplarischer Fall war die versuchte Verdrängung der Familie in der Sorauer Str. Eine Frau (Schauspielerin) lebte als WG mit einer anderen in einer gemieteten Eigentumswohnung. Sie half in der Zeit, in der auch in unserer Nachbarschaft Geflüchtete in Turnhallen untergebracht waren, in der Notunterkunft in der Zeughofstraße. Wie das Leben so spielt: sie und einer der Geflüchteten verliebten sich und schon bald erwarteten sie ein Baby. Die WG löste sich auf und die Familie zog zusammen. Eine Erfolgsgeschichte von funktionierender Integration.

Nun ist es aber so, dass Vermieter bei Mieterwechsel in WGs nicht einfach zustimmen können oder gar müssen, sondern es muss ein neuer Mietvertrag geschlossen werden. In diesem Fall wollte der Vermieter die Familie nicht annehmen und er verlangte von der Mieterin die Räumung. Besonders perfide daran: Der Vermieter ist selbst Richter am Sozialgericht und weiß daher ganz genau, was diese Räumung für die Familie bedeutet hätte – in letzter Konsequenz: Wohnungslosigkeit. Die Nachbarschaftsinitiative Bizim Kiez hörte davon und machte den Fall groß. Innerhalb kürzester Zeit demonstrierte eine bunte Mischung von Nachbar*innen vor dem Haus und alle Zeitungen berichteten sehr pointiert. Besonders schön daran: Neben den vielen Mieter*innen aus dem Kiez demonstrierten auch die anderen Eigentümer*innen aus dem Haus an der Seite der bedrängten Familie. Das Haus ist schon seit 30 Jahren in Eigentumswohnungen aufgeteilt und die Eigentümergemeinschaft schrieb ihrem Eigentümerkollegen einen missbilligenden Brief, in dem er aufgefordert wurde, der Familie einen bezahlbaren Mietvertrag zu geben. Doch eine Reaktion blieb trotzdem zunächst aus und es lief auf die Verhandlung vor Gericht hinaus. Begleitet von einer Gruppe Nachbar*innen ging die Familie ungewiss zur Verhandlung und siehe da: Der Vermieter hatte kurz vor Prozesseröffnung die Klage zurückgezogen – die Räumung war vom Tisch. Wir können es nur vermuten, aber die Wahrscheinlichkeit, dass da über den Flurfunk von entscheidendem Richter zu klagendem Richter weitergesteckt wurde, wie der Fall entschieden werde, ist wohl recht hoch. Die Blöße vor Gericht zu verlieren, wollte sich der Vermieter nicht geben. Fazit: Ohne öffentlichen Druck aus der Nachbarschaft, wäre diese nette Familie sang und klanglos verdrängt worden.

„Wir sind immer die Dummen“

Wir dürfen uns aber keine Illusionen darüber machen, dass auch unter Nachbar*innen gelebte Solidarität weitgehend verlernt ist. Wir haben Jahrzehnte des gesellschaftlichen Neoliberalismus hinter uns, wo alle dachten „erstmal für das eigene Auskommen“ sorgen zu müssen. Das haben die meisten so verinnerlicht, dass sie angesichts der Preissteigerungen denken, „ich könnte doch auch mal davon profitieren“. Bei der Frage, ob es gerecht ist, dass mit den Häusern in unseren Kiezen einzelne riesige Gewinne abschöpfen, während Mieter*innen immer höhere Mieten bezahlen müssen, sind sich alle einig: nein! Wenn sich aber die Chance auftut, plötzlich selbst von den Preissteigerungen zu profitieren, kommen manche in Versuchung. Der Gedanke selbst die eigene Wohnung zu besitzen, um sie dann irgendwann mit großem Gewinn zu verkaufen, ist sehr verlockend. Aus dem Gefühl heraus, immer abgezockt zu werden und der/die Dumme zu sein, denken manche egoistisch es wäre gerecht, nun auch mal selbst was vom Kuchen abzubekommen.

Dazu hing an der Kreuzung Oranienstr./Manteuffelstr. eine Zeit lang ein treffendes Protestplakat: „Töte den Investor in dir“. Genau darum geht es. Die Idee des privaten Abschöpfens von finanziellen Gewinnen muss aus unseren Köpfen raus. Es ist immer ein Verlustgeschäft, wenn einzelne auf Kosten anderer Kasse machen. Solange wir daran glauben, selbst als spekulierende Gewinner*innen aus der Misere der Wohnungsnot herauszugehen, sind wir wirklich die Dummen. Solidarische Nachbarschaften setzen sich dafür ein, dass kollektive Eigentumsverhältnisse umgesetzt werden – also für Rekommunalisierung oder die Überführung in gemeinschaftlich privatwirtschaftliche Formen wie beim Mietshäuser Syndikat, Genossenschaften oder einem Community Land Trust (CLT).

Ein Werkzeug, gegen die Spekulation, ist das „kommunale Vorkaufsrecht für Dritte“. Im Verfahren gibt es noch reichlich Probleme, aber in „Milieuschutzgebieten“ kann der Bezirk erwirken, dass Häuser nicht an Menschen oder Firmen verkauft werden, die es nur auf den spekulativen Profit abgesehen haben. Der Bezirk kann sich „für Dritte“ einsetzen, die dann allerdings zum aufgerufenen Preis das Haus übernehmen können. Das ist genau der Moment, an dem die/der kleine Investor*in erwacht und manche Bewohner*innen eines verkauften Hauses denken, „na dann stemmen wir das doch selbst – wir kaufen unser Haus“. Zur Refinanzierung könnten die Wohnungen dann ja wieder verkauft werden. Aber da wird ein entscheidender Faktor vergessen. So blöd ist der Bezirk auch nicht, dass er das Abkassieren einfach von Großinvestor*innen auf Kleineigentümer*innen verlagern würde. Nein, der Schlüssel zur Absicherung der Immobilien gegen die Verwertung am Markt (=Gemeinwohlorientierung) ist die „Abwendungsvereinbahrung“. Mit ihr bestimmt der Bezirk, was er von der/dem Käufer*in erwartet. Z.B: Keine teuren Modernisierungen und keine Aufteilung in den nächsten 25 Jahren. Nur wenn dies vertraglich zugesichert wird, stimmt der Bezirk dem Verkauf zu. Und das gilt für jede/n Käufer*in – auch den begünstigten Dritten. So wird Abzocken ausgeschlossen und die bestehenden Wohnverhältnisse gesichert.

Ein gemeinsamer Aufbruch

Lange Jahrzehnte waren unsere Kieze von einer Protesthaltung geprägt, die gegen alle Institutionalisierung aufbegehrte. Doch wenn wir schauen, wo heute die Anker sind, die das Viertel gegen die Flut des Geldes und dem Sog der Gentrifizierung befestigen, dann sind es die Hausvereine, Genossenschaften und ähnliche Modelle, die Kooperationen mit staatlichen oder gemeinwohlorientierten Akteuren eingegangen sind.

Heute entwickeln wir auf kommunaler Ebene neue Modelle (z.B. CLT), oder entdecken die alten (wie das Vorkaufsrecht) wieder. Im Sinne eines „neuen Munizipalismus“ sollten wir aus der Zivilgesellschaft heraus versuchen, stark in die Bezirksverwaltung einzuwirken und im Zusammenspiel mit den Ämtern die Genehmigungspraxis zu ändern. Im Bereich Stadtentwicklung ist der Veränderungsprozess in unserem Bezirk schon deutlich spürbar und findet gerade neue Formen. Etwa über die bisher sogenannte „Arbeits- und Koordinierungsstruktur (AKS)“, mit der die Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Verwaltung auf ein kooperatives Niveau gebracht werden soll. Auch beim Neubau auf kommunalen Flächen wird nun konsequent auf Beteiligung der Nachbarschaften gesetzt („LokalBau“), um die Stadtentwicklung im Bezirk etwas besser an die tatsächlichen Bedarfe anzupassen und nicht hoffnungslos dem Treiben am Markt ausgeliefert zu sein.

Aber machen wir uns nichts vor. Das geschieht nur auf Grund des Drucks. Zum einen durch den Druck von oben (=Verdrängung), aber noch viel stärker durch den Druck von unten (=Organisierung). Wir, die Menschen in der Nachbarschaft – auch als organisierte Initiativen – wir sind der Motor dieser Bewegung. Einer emanzipatorischen Bewegung für das „Recht auf Stadt“, die Schwache stark machen will – als Solidargemeinschaft.

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